Am Zehnten des Monats Tischri wird das Versöhnungsfest gefeiert. Es ist ein strenger Fasttag, an welchem Speise und Trank vom Abend bis zum Abend verboten ist. An ihm muss jede Arbeit und jede Verrichtung unterbleiben, die am Sabbat untersagt ist; die für die übrigen Feiertage eingeräumten Ausnahmen haben an diesem Feste keine Geltung. Der Tag ist dazu bestimmt, von unsern Sünden uns zu reinigen, deren Vergebung jedem zugesichert ist, der sich durch ernste Ein- und Umkehr dieser Gnade würdig macht. Solange der Tempel stand, erhielt dieses Fest eine besondere Weihe und Bedeutung durch den Opferdienst. Es war der einzige Tag im Jahre, an welchem der Hohepriester das Allerheiligste betrat. Eine ganze Woche bereitete er sich in stiller Zurückgezogenheit auf alle die heiligen Handlungen vor, die er am Versöhnungsfeste vorzunehmen hatte; denn nur er allein durfte an diesem bedeutsamen Tage den Dienst verrichten, der ihn vom frühen Morgen bis zum späten Abend voll in Ansprach nahm. Die kostbaren, goldstrotzenden Gewänder seiner Amtskleidung legte er nur an, um das tägliche und das Festopfer darzubringen; so oft er aber zu dem besondern Dienste des Versöhnungstages überging, vertauschte er den prunkenden Ornat mit einem schlichten Gewande aus weissem Linnen. Fünfmal wechselte er auf diese Weise die Kleider, und jedesmal stieg er ins Bad und wusch sich sowohl beim Ablegen des einen als nach dem Anlegen des andern Gewandes Hände und Füsse mit heiligem Wasser aus goldenem Becken. Den Höhepunkt der Feier bildete die Darbringung des Räucherwerkes im Allerheiligsten vor der Bundeslade. In goldener Schaufel holte der Hohepriester glimmende Kohlen vom Opferaltar, tat Räucher werk in einen goldenen Löffel, nahm die Schaufel in die Rechte und den Löffel in die Linke, setzte jene zwischen die Stangen der heiligen Lade, schüttete aus diesem das Räucherwerk auf die Kohlen und sprach auf dem Rückwege, während der innere Raum mit Rauch sich füllte, draussen im Hêchal ein kurzes Gebet. Die Ṣadokäer waren der Ansicht, dass der Hohepriester, sowie er den Vorhang erreicht hat, das Räucherwerk auf die Kohlen schütten soll, damit er das Allerheiligste mit rauchender Pfanne betrete. Deshalb musste er später, als diese Sekte im Kreise der Priester viel Anhänger zählte, jedesmal vor dem Versöhnungstage einen feierlichen Eid leisten, dass er nach der pharisäischen Ueberlieferung verfahren werde. Aber auch unter den Mischnalehrern selbst herrschen über etliche Punkte Meinungsverschiedenheiten, die hauptsächlich darauf zurückzuführen sind, dass im Pentateuch die Dienstordnung für diesen Tag auf zwei Stellen verteilt ist. Ueber die Sühnopfer finden sich die Vorschriften im dritten Buche (16, 1—34), über die Festopfer aber im vierten (29, 7—11). Es fragt sich nun, in welcher Reihenfolge diese Opfer darzubringen sind. Dass die Feier mit dem täglichen Morgenopfer beginnt und mit dem täglichen Abendopfer schliesst, unterliegt keinem Zweifel; streitig ist nur, ob die Festopfer (Musafim), die an anderen Feiertagen zwischen den beiden täglichen ihren Platz hatten, diesmal gleich nach dem Morgenopfer, also vor dem Sühnopfer an die Reihe kamen, oder erst nach diesem, also nachmittags vor dem Abendopfer dargebracht wurden. Eine andere Streitfrage ist, ob der im dritten Buche (16, 5) geforderte Widder mit dem im vierten Buche (29, 8) erwähnten identisch ist, oder ob es zwei verschiedene Opfer sind. Zur bessern Orientierung wollen wir hier den Opferdienst des Versöhnungstages in grossen Strichen skizzieren. Sowie der Morgen anbrach und der östliche Himmel sich erhellte, schlachtete der mit seinem Amtsgewand bekleidete Hohepriester das zum Morgenopfer bestimmte Lamm, fing dessen Blut in einer Schale auf und sprengte es auf den äussern Altar. Dann begab er sich in den Hêchal, wo er das tägliche Räucherwerk auf dem goldenen Altare verbrannte und auf dem goldenen Leuchter die Lampen in Ordnung brachte, worauf er zum äussern Altar zurückkehrte, um auf ihm das inzwischen zergliederte Lamm nebst dem zugehörigen Mehl- und Weinopfer (4. B. M. 28, 5 u. 7) wie auch sein persönliches Brotopfer (3. B. M. 6, 13—15; s. Scheḳalim VII Anm. 34) darzubringen. Damit war der erste Teil des Tagesdienstes zu Ende. Es folgen nun (nach R. ‘Aḳiba) die im vierten Buche (29, 7—11) vorgeschriebenen Festopfer oder Musafim mit Ausnahme des Widders und des Bockes, die erst später nach dem „Sündopfer des Versöhnungstages“, auf welchen daselbst (Vers 11) Bezug genommen wird, an die Reihe kamen. Jetzt legte der Hohepriester die weissen Gewänder an, um zum dritten, bedeutsamsten Teil des Tagesdienstes zu schreiten. Er näherte sich dem jungen Stiere, den er aus eigenen Mitteln als Sündopfer darbrachte, legte seine Hände auf dessen Kopf und sprach dae Sündenbekenntnis für sich und sein Haus. Und die Priester und das Volk, die in der Halle sich drängten, beugten das Knie und warfen sich nieder, als sie aus geweihtem Munde mit voller Deutlichkeit den heiligen Namen Gottes vernahmen, den man sonst sich auszusprechen scheute, und riefen begeistert: Gepriesen sei der Name der Herrlichkeit seines Reiches für und für. Nun begab sich der Hohepriester an die Nordseite des Opferaltars, wo zwei Böcke seiner harrten, von denen er den einen für den Ewigen, den andern für ‘Azazel durch das Los bestimmte. Nachdem er diesem Bock ein rotes Band zum Kennzeichen um die Hörner, jenem um den Hals gebunden hatte, legte er die Hände zum zweiten Male auf den Kopf seines Stieres und sprach das Sündenbekenntnis für das ganze Haus Aharons. Und wieder fiel die tausendköpfige Menge aufs Angesicht und stimmte in den Ruf ein: Gepriesen sei der Name der Herrlichkeit seines Reiches für und für. Darauf schlachtete der Hohepriester den Stier und fing das Blut in einer Schale auf, die er vorläufig auf die Erde setzte. Nun war der grosse, weihevolle Moment gekommen, da er das Allerheiligste betreten sollte, um vor dem goldenen Schrein, der die steinernen Tafeln des Bundes in seinem Innern barg, das Räucherwerk darzubringen. Auch im zweiten Tempel, dem jenes unvergleichliche Erbteil einer glorreichen Vergangenheit, das ehrwürdigste Denkmal aus Israels stolzer Jugendzeit schon fehlte, war dieser Augenblick sogar für die dichtgedrängte, in angstvoller Spannung draussen harrende Menge noch so aufregend, dass der Hohepriester seine Rückkehr beschleunigte und selbst im Vorraume, dem Hêchal, nur ein kurzes Gebet sprach. Dann nahm er die Schale, die er vorhin auf den Boden gestellt hatte, und begab sich aufs neue in das Allerheiligste, wo er in das Blut seines Opferstieres achtmal den Finger tauchte, um es gegen die Bundeslade hin einmal nach oben und siebenmal nach unten zu sprengen. Darauf schlachtete er in der Opferhalle den Bock, auf den das Los „für den Ewigen“ gefallen war, fing das Blut in einer zweiten Schale auf und ging zum dritten Male in das Allerheiligste, wo er wie vorhin achtmal von dem Blute in der Richtung der Bundeslade sprengte. Dieselben sechzehn Sprengungen führte er dann im Hêchal gegen die Mitte des Vorhanges aus, acht mit dem Blute des Stieres und wieder acht mit dem Blute des Bockes, worauf er die beiden Gefässe in einander leerte und mit dem gemischten Blute die vier „Hörner“ des innern, goldenen Altars je einmal, die Oberfläche aber siebenmal besprengte. Nachdem er den Rest des Blutes auf den Grund des äussern Altars gegossen, trat er an den zweiten, für ‘Azazel bestimmten Bock heran, legte seine Hände auf dessen Kopf und sprach das Sündenbekenntnis im Namen des ganzen Volkes. Und tieferschüttert sanken die Andächtigen, die in dichter Schar die Halle füllten, in die Knie, den Boden mit dem Angesicht berührend; und als der Hohepriester nun zum letzten Male in Heiligkeit und Reinheit den erhabenen Namen Gottes klar und deutlich aussprach, fielen sie wieder mit den Worten ein: Gepriesen sei der Name der Herrlichkeit seines Reiches für und für. Nun wurde der Sündenbock seinem Führer übergeben, der ihn nach der Wüste bringen sollte. Viele der Edelsten Jerusalems begleiteten ihn bis zur ersten der zehn Hütten, die auf seinem Wege lagen. In der Wüste angelangt, bestieg der Führer einen Felsen, teilte ein rotes Band in zwei Hälften, befestigte die eine am Felsen und die andere an den Hörnern des Bockes, den er sodann von der Höhe des Felsens hinabstürzte. Inzwischen hatte der Hohepriester das Fett der beiden Sündopfer, des Stieres nämlich und des Bockes, deren Blut im Innern des Heiligtums gesprengt worden war, nebst dem Zwerchfell und den Nieren herausgeschnitten und in eine Schüssel getan. Während ihr Fleisch samt der Haut ausserhalb der Stadt verbrannt wurde, las er aus einer Torarolle, die man ihm feierlich hinreichte, die auf das Fest bezüglichen Stellen des dritten Buches, trug den Abschnitt aus dem vierten Buche auswendig vor und schloss mit einigen Segenssprüchen. Darauf legte er wieder sein golddurchwirktes Amtskleid an, um zunächst das im vierten Buche (29, 7—11) vorgeschriebene Festopfer (Musaf), von dem bisher nur der Stier und die sieben Lämmer dargebracht waren, mit den beiden zurückgestellten Opfertieren, dem Ziegenbocke und dem Widder, zu vollenden und zugleich den eigenen Widder zu opfern, den er nach 3. B. M. 16, 3 als Ganzopfer darzubringen hatte. Dann nahm er die in der Schüssel aufbewahrten Opferteile und übergab sie dem Feuer des äussern Altars, wonach er zum vierten und letzten Abschnitt seines Tagesdienstes, zum Abendopfer überging. Dieses bestand wie das Morgenopfer aus einem Lamm im ersten Lebensjahre und dem zugehörigen Mehl- und Weinopfer, dem der Hohepriester noch sein persönliches Brotopfer hinzufügte. Nachdem er auch dieses vollzogen hatte, vertauschte er wieder die acht Gewänder seiner Amtstracht mit den vier weissen Kleidern und begab sich zum letzten Male in das Allerheiligste, um die Kohlenschaufel und den Löffel herauszuholen, worauf er wieder das prächtige, mit Edelsteinen reich besetzte Priestergewand anlegte, in welchem er nun den Hêchal betrat, wo er das abendliche Räucherwerk auf dem goldenen Altare darbrachte und auf dem siebenarmigen goldenen Leuchter die Lampen anzündete. Damit war sein schweres Tagewerk vollbracht. Das ist in grossen Zügen das Bild, das uns in der Mischna von der Tempelfeier des Versöhnungstages entrollt wird. Die Darstellung der Einzelheiten nimmt in unserm Traktate, der gewöhnlich schlechthin „Joma“ (der Tag) genannt wird, den breitesten Raum ein. Die übrigen Vorschriften des Versöhnungsfestes sind auf ein einziges Kapitel, das letzte beschränkt. Im ersten Kapitel werden die sieben Tage der Vorbereitung behandelt, im zweiten die täglichen Opfer beschrieben. Alle übrigen beschäftigen sich — von gelegentlichen Abschweifungen und Unterbrechungen abgesehen — mit dem besondern Opferdienste, der diesen Tag der Sühne auszeichnet. Den Schluss bildet eine erhebende Betrachtung über die läuternde Kraft dieses eigenartigen Festes, die jeder in seinem Innersten erlebt, der mit aufrichtiger Reue den festen Willen zur Rückkehr verbindet.